Einen schönen guten Tag zusammen!

Ich muß erst einmal ganz einfach meine Begeisterung loswerden. Ich fand das gerade wunderschön mit dem Konzert. Und dieser Widerspruch zwischen dem, was in diesem Raum normalerweise passiert und dem, was ich gerade erlebt habe, ist so groß, daß ich nur sagen kann: so etwas müsste jede Woche stattfinden, um diese Seilschaften, diese Geister-Seilschaften zu vertreiben. Ich glaube, dass gute Musik dazu ein gutes Mittel ist.
Ich möchte nicht zu lang präambeln, aber erstmal herzlich hier den Organisatoren danken, den Rathaus-Besetzern. Besetzung ist ja nicht nur etwas körperlich-physisches, sondern auch, wenn man einen neuen Geist ins Rathaus bringt – ich möchte herzlich dafür danken.

Ich bin ja auch bekannt dafür, dass ich mich manchmal radikal ausdrücke und möchte jetzt schon sagen, dass ich sicher bin, dass unsere kleine Veranstaltung hier auch ohne glamouröses Feuerwerk viel bedeutsamer ist als die Großveranstaltung in der Liederhalle, wo OB Schuster mit all seinen Seilschaften kürzlich verabschiedet worden ist.

Die Zukunft liegt nicht bei diesen Liederhallen-Seilschaften, sondern in der Idee der Fortschreibung der Demokratie.

Zunächst zum Bürgerhaushalt: Peter hat gerade das Thema, das Fass aufgemacht sozusagen. Ich mach jetzt auch keinen Geschichtsunterricht, sondern möchte in Kürze erläutern:

Was ist der echte Bürgerhaushalt und was ist der Unterschied zu unserem so genannten Bürgerhaushalt hier in Stuttgart ?

Es geht um die Wesensmerkmale. Der echte Bürgerhaushalt ist entstanden in Brasilien, in Porto Alegre 1989, also vor über 20 Jahren.  Porto Alegre ist die Hauptstadt des Bundesstaates Rio Grande do Sul, mit ungefähr 1,5 Mio. Einwohner, also nicht ganz klein und dreimal so groß wie Stuttgart.

Der Großraum Porto Alegre hat ungefähr 3,8 Mio. Einwohner und wurde seinerzeit von der PT regiert, der Arbeiterpartei, der “Partida dos trabalhadores“ und hat diesen Impuls, den Impuls zu einem Bürgerhaushalt, mitgetragen und unterstützt.  Also in gewisser Weise eine ähnliche Situation wie hier in Stuttgart, wo Leute einfach gesagt haben, wir initiieren jetzt ein Bürgerparlament.

Das Wesensmerkmal des echten Bürgerhaushalts besteht darin, dass die Menschen zusammen kommen, beraten und entscheiden und nicht vorgeführt werden, wie das hier bei uns meistens der Fall ist.

Die Betonung liegt zum einen auf „entscheiden“ und ebenso auf einem Begriff, der eigentlich schon 2000 Jahre alt ist, dem „beraten“.
Deliberatio, der Begriff kommt aus dem römischen Recht, d.h. die Menschen beraten darüber, wie etwas gemacht werden soll. Und bei dem Beraten ist die entscheidende Frage: ist das ganze ein Fake, um die Bürger in die Irre zu führen, weil ja Alternative immer gerne mit ’nem Räucherstäbchen in der Hand auch mitreden wollen, sodass man da Ruhe hat, oder ist das eine echte Beratung, bei der wirklich etwas beraten und entschieden wird. Beim echten Bürgerhaushalt, da wird tatsächlich entschieden.

Das sieht so aus, ganz praktisch gesehen, dass im März jeden Jahres diese Beratungen aufgenommen werden. Die Stadt wird dazu aufgeteilt in Stadtbezirke, also in kleine Einheiten, damit man sich begegnen und wahrnehmen kann. Denn ich kann nicht mit 1,5 Mio. Menschen in einem Raum beraten, das geht nicht. Es muss praktisch organisiert werden: kleine Einheiten, im März wird mit den Beratungen begonnen, diese gehen über Monate und es wird geklärt, was die Menschen brauchen, was sie wollen, was sie für wichtig halten.

Es werden dann Zwischenstufen gebildet und es werden Delegierte bestimmt. Delegierte muss es immer geben bei so vielen Menschen, das geht nicht ohne, ich kann nicht über jeden Bleistift mit Volksentscheid abstimmen und die Delegierten tragen dann die Ergebnisse der Bezirke, der Stadtteile weiter, beraten diese wieder und zum Schluss gibt es einen OP-Rat. Also nicht Operationssaal, das wäre bei uns die Abkürzung, sondern das OP steht natürlich für Orçamento Participativo, oder participatory budget, also für Bürgerhaushalt.

Danach wird die Nahtstelle zur Kommunalpolitik gebildet, die dort auch existiert und dann werden diese Entscheidungen formal getroffen. Aber die Entscheider sind die Menschen selbst, das ist das Entscheidende.

Eine kleine Anekdote nebenbei: wir hatten mit einer kleinen Gruppe von Engagierten vor ca. 10 Jahren schon mal einen Anlauf genommen, weil der Gründer des Bürgerhaushalts, Davi Luiz Schmidt, angeboten hatte, dass er nach Deutschland kommt und auch nach Stuttgart um uns zu erzählen, wie ein solcher Bürgerhaushalt gegründet und aufgebaut wird.

Er war hier im Rathaus und wir hatten lange versucht, Termine mit den Fraktionen zu kriegen. Letztendlich ist es uns gelungen, zwei Gemeinderäte zu finden, die gnädigerweise Gehör gegeben haben, sodass er auf zwei Gemeinderäte treffen konnte; bei diesem Gespräch haben beide ihr Frühstücksbrötchen weiter gegessen und Davi Luiz Schmidt mitgeteilt, verkürzt, dass sie keine Nachhilfe brauchen, dass sie alles im Griff haben, das nur als kleinen Einschub.

Den echten Bürgerhaushalt gibt es mittlerweile in 70 Städten in Brasilien, also auch in anderen Städten wie Belem, Recife oder Belo Horizonte und das entscheidende ist, dass entschieden wird über Geldfragen, aber auch über Sachfragen. D.h. dieser Bürgerhaushalt ist weiterentwickelt worden, man sagt nicht nur, das Geld soll für dieses oder jenes Projekt ausgegeben werden, sondern es werden auch Sachfragen beraten und immer mehr entwickelt sich von unten aus der Bevölkerung eine Kompetenz dadurch, dass entschieden wird ! Das führt dazu, dass z.B. die Bürger selber auch die Ausstattung einer neuen Schule beraten und beschließen. Also Entscheiden, nicht nur in Geld-, sondern auch in Sachfragen.

Und jetzt ist natürlich die entscheidende Frage, um es auf den Punkt zu bringen: warum ist dieses Modell gerechter, als das Modell, was wir haben, mit Politikern, die uns sagen, was wir tun und was wir lassen dürfen und die uns sagen, ihr habt uns gewählt, deswegen entscheiden wir, was gemacht wird.

Der entscheidende Unterschied ist der: Ich glaube persönlich, dass alle Menschen mehr oder weniger gleich sind, also dass wir nicht eine Kaste der Guten sind und die andern die Bösen. Ich glaube, dass wir im Prinzip alle ungefähr gleich oder ähnlich sind, denn ich möchte nicht wissen, wie es uns gehen würde, wenn wir ein Vorstand von RWE wären mit 4 Mio. Jahresgehalt, das korrumpiert auch. Ich glaube nicht, dass es die guten und die bösen Menschen gibt, aber ich glaube daran, dass die Strukturen Einfluß darauf haben, was zum Schluss dabei herauskommt.

Der Unterschied ist: die gleichen Menschen wie hier in Stuttgart gibt es auch in Porto Alegre, da gibt es sicher auch eine Firma wie Herrenknecht, die gerne Tunnel bohrt und da gibt’s sicher auch Bürgermeister, die gerne Cross-Border-Leasing-Geschäfte machen und für ein paar hundert Millionen die Steuer umgehen und zocken wollen. Und da gibt’s sicher auch Ackermänner bei den Banken und da gibt’s den Ölkonzern Petrobras und und und…

Die gibt’s da alle auch, aber der Unterschied ist: wenn diese Menschen in den Stadtteilen zusammen kommen, ist da der Herr Petrobras und seine Kollegen und die wollen natürlich eine Pipeline und die wollen natürlich Öl verkaufen. Aber die 16000 Mütter mit 3 Kindern auf dem Arm, die sind eben auch da. Und wenn es zur Abstimmung kommt und wenn es um die Frage geht: Wir haben 3 Mio. für diesen Stadtteil, was sollen wir machen: einen unterirdischen Flughafen, den niemand braucht, oder vielleicht Kindergärten und Straßenbeleuchtung, dann ist völlig klar, was das Ergebnis ist. Dann werden nämlich die Mütter dafür votieren, dass ein Kindergarten gebaut wird und eine Straßenbeleuchtung herkommt und die Herren von Petrobras haben das Nachsehen. So einfach ist das.

Soviel zum echten Bürgerhaushalt. Jetzt ist es so wie mit allen Begriffen,
dass Begriffe, die positiv belegt sind, natürlich sofort okkupiert werden, weil natürlich die mächtigen im Hintergrund so etwas auch mitkriegen, die sind ja nicht dumm, und die merken: der Begriff „Bio“ ist positiv belegt und auf einmal ist alles „Bio“, dann ist der Sportwagen Bio und es gibt Bio-Eisenbahn, Bio-Flugzeuge, Bio-Reisen und auf einmal ist alles Bio. Und so hat man auch gemerkt, dass der Begriff Nachhaltigkeit positiv konnotiert ist und auf einmal ist alles nachhaltig. Und nach 10 Jahren ist die Nachhaltigkeit das Gegenteil von dem, mit dem sie in Rio 1992 mal begonnen hat, dann heißt das nämlich bei Herrn Ackermann, „wirtschaftliche Effizienz und nachhaltige Wertschöpfung entlang der Wertschöpfungskette“, also dann ist der Begriff auf einmal in sein Gegenteil verkehrt.

So ist das auch mit dem „Bürgerhaushalt“. Das hat natürlich als erste
die Bertelsmann-Stiftung erkannt, dass da was interessantes ist, und so gibt’s ganz viele Bürgerhaushalte in Europa und anderswo, die aber keine sind.

Bei diesen Schein-Bürgerhaushalten geht es darum, dass man den Bürgern das Gefühl geben will, dass sie wirklich beteiligt sind, wie in Porto Alegre. Aber in Wirklichkeit – jetzt darf ich mich einmal kurz der Fäkalsprache bedienen – handelt es sich um eine Verarschung, weil die Bürger gar nichts entscheiden. Sondern sie werden zum mitmachen eingeladen, das läuft so gerade bei uns in Stuttgart ab.

In jedem Haushalt ist so ein Päckchen von Flyern, Bürgerhaushalt
ABCDEF und es ist ja so wichtig und so toll und die Bürger dürfen….etc.

Sie kennen den Text, „neuer Politikstil“ u.s.w., aber es ist die alte Nummer: gelbes Kärtchen, einwerfen und alles das, was wir als Bürger zu sagen haben, wird dann irgendwo gehört oder bestenfalls gedanklich verarbeitet. Das ist die Wahrheit, die dahinter steht. Aber das Ganze ist natürlich meilenweit entfernt von einer echten Entscheidung. Und dieses Merkmal muss man ganz klar auf dem Bildschirm haben. Und das läuft natürlich auf allen Ebenen ab, Bertelsmann und Gleichgesinnten, sie sind dauernd dabei, den Bürgerhaushalt umzuformulieren, um uns als Bürger in die Irre zu führen.

So lässt sich bei Wikipedia eine kurze Interpretation finden, die da heißt: Bürgerhaushalt ist das, wo die Bürger gehört werden und dabei sind und mitberaten u.s.w. Es wird das ganze praktisch umgestrickt um uns glauben zu machen, das Bürgerhaushalt etwas ganz anderes ist. Aber das stimmt natürlich nicht.

Und an der Stelle muss man sagen, das demokratische Verfahren, die zum Ziel haben, die Bürger zu täuschen, weniger als gar nichts sind, weil sie nicht nur nichts bringen, sondern den Bürger auch noch in die Irre führen. So z.B. auch bei der so genannten EU-Bürgerinitiative mit 1 Mio.
Unterschriften, wo engagierte Menschen wie gestört in ihren Ländern durch die Gegend laufen um Unterschriften zu sammeln. Aber das Ganze ist eine Nullnummer, weil selbst wenn sie die 1 Mio. Unterschriften gesammelt und 100 Stunden investiert haben, haben sie nur ein Anhörungsrecht. D.h., das EU-Parlament ist dann so gnädig und hört an. Dazu brauch ich aber keine Unterschriften sammeln, da kann ich auch einen Brief schreiben, da werde ich genauso angehört. Oder nehmen wir – ich darf einmal kurz auf Stuttgart 21 zu sprechen kommen – die damalige Bürgerbeteiligung 1997.
Da hat mir unter Tränen eine Moderatorin von der KE, der Kommunal-Entwicklung erzählt, der Auftrag sei damals der gewesen, das ganze zu moderieren, aber so, dass keine Alternativen besprochen- und dass Stuttgart 21 nicht infrage gestellt wird. Das ist Irreführung, das ist keine Demokratie, sondern ein Missbrauch von Beteiligungs- und demokratischen Verfahren. Soviel dazu.

Ich komm zum Schluss und möchte noch mal klarstellen, was die wesentlichen Merkmale sind, die für uns für die Zukunft wichtig sind.  Es ist immer so in der Menschheitsgeschichte; wenn eine höhere Stufe von Demokratie erklommen werden soll, dass die herrschenden natürlich mit Krallen und Beißen sich wehren und sich entmachtet fühlen. Das war übrigens in Porto Alegre teils auch so.

Es ist nicht so, dass die dort kampflos das Feld räumten und sagten: Liebe Bürger, jetzt seid ihr dran, sondern das sind immer die gleichen Abläufe. Als per Volksentscheid in Bayern der komplette Senat rausgeschmissen wurde, hat dieser auch geheult und geschrien und hat der ganzen Welt erklärt, es geht in Bayern nicht ohne den Senat, Bayern wird untergehen, das prophezeien wir euch. Aber wie ihr alle wisst, existiert Bayern immer noch. Das heißt also, natürlich wird es den Widerstand gegen ein echtes Bürgerparlament geben und da haben wir in Stuttgart schon handfeste Kostproben bekommen, wie sich der Gemeinderat auf die Hinterbeine stellt, wenn eine andere Stufe, eine andere Qualität von Demokratie erreicht werden soll. Und das Argument, das dann von den Parteien kommt, klingt auf den ersten Blick einleuchtend: „Hört mal, wir leben im Rechtsstaat und was ihr hier macht, ist widerrechtlich, ihr schürt hier den Widerstand etc.

Um es nochmal ganz klar zu sagen: es gibt einmal den Rechtsstaat, zu dem ich mich ohne wenn und aber bekenne, das sind die Gesetze von A bis Z, das ist richtig. Aber es geht noch um die Frage, wer macht die Gesetze und wer macht die Spielregeln.

Und da muss man eins ganz klar sagen:

In einer Demokratie haben wir als Bürger, wir als Souverän, die höhere Kompetenz der Festlegung der Spielregeln. Höher als jeder Mandatar, den wir jemals gewählt oder bezahlt haben. Wir selbst sind die höhere Instanz. (Beifall.)

Und wenn wir an einer höheren Form der Demokratie arbeiten, dann werfen uns die Parteien vor: Nein, nein, das dürft ihr gar nicht, das ist so und so, da sind die Gesetze. Wenn aber die Parteien an der Regierung sind, selber an der Regierung sind wie Frau Merkel und Konsorten, dann ändern sie jeden Tag die Gesetze, ohne auch nur einmal mit der Wimper zu zucken und sie haben offensichtlich überhaupt kein Problem, (Moment bitte, vor dem Applaus kommt noch was wichtiges), auch einen Staatsstreich durchzuführen bei helllichtem Tage, wie es jetzt beim ESM gerade eben passiert ist.

Das heißt also, wir müssen uns klar machen, wenn wir als Bürger, als normale Bürger, als Souverän an einer höheren Form der Demokratie arbeiten, verlassen wir nicht den Rechtsstaat und verhalten uns nicht rechtswidrig. Alles, was es auf der Welt gibt, ist genauso entstanden wie jetzt in diesem Moment in diesem Raum; es waren immer Menschen, die einen Impuls hatten und diesen Impuls eingebracht haben in die Stadt, ins Land, in die Gesellschaft. Nicht mehr und nicht weniger, denn so ist das System, was wir jetzt haben, auch entstanden.

Es gibt nur eine Instanz, die das Recht hat, die höhere Form der Demokratie zu erarbeiten, zu verwirklichen, die dazu legitimiert ist und das sind wir selber. Vielen Dank!

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Beitrag als CamS21-Video (ab Min 13:45 – 29:05)